von Corinna Wiß
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3. Juni 2025
„So jung wie heute kommen wir nicht mehr zusammen. Da gebe ich doch gerne noch eine Runde aus“, sagte Jens Tüchtig, Vertriebsleiter der Erfolgreich GmbH zu seinem 12-köpfigen Vertriebsteam. Mareike schaut stillschweigend auf ihre Armbanduhr. Es ist bereits 0.23 Uhr, stellt sie fest. Bereits drei Fortbildungstage liegen hinter ihr und der 3. Abend zusammen mit dem ganzen Team und die nicht enden wollenden Besuche in der Hotelbar. Mareike fühlt sich müde und ausgelaugt und würde am liebsten hoch in ihr Hotelzimmer gehen und die Stille genießen, um die ganzen Eindrücke zu verarbeiten. Allerdings möchte sie auch nicht als Außenseiterin des Teams dastehen. Für Mareike ist es unerklärlich, dass der Rest des Teams an den abendlichen Sessions so viel Freude hat und anscheinend keine Erholung braucht. So langsam müsste doch auch mal alles gesagt sein nach den drei Tagen. Mareike denkt, dass mit ihr vielleicht etwas nicht stimmt, weil ihr diese abendlichen Sessions nichts geben. Aber sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Doch innerlich spürt sie, wie angespannt und überreizt sie ist. „Bleibe deiner eigenen Natur treu. Wenn du es liebst, langsam und stetig zu arbeiten, lass dich von anderen nicht hetzen. Wenn du Tiefe magst, zwinge dich nicht zur Breite.“ Susan Cain Diese Szene zeigt ein typisches Beispiel, wenn introvertierte und extrovertierte Menschen aufeinandertreffen. Dabei ist Introversion - „nach innen“ gewandt - partout nichts Außergewöhnliches, aber viele introvertierte Menschen leiden darunter, weil sie denken, sie müssten anders sein. Zudem fühlen sie sich oft übersehen, gerade in Teams mit vielen extrovertierten – „nach außen“ gewandten – Menschen. Was unterscheidet „nach innen“ und „nach außen“ gewandte Menschen? Sylvia Löhken, Autorin mehrerer Bücher, die sich an introvertierte Menschen richten, beschreibt darin unter anderem die biologischen Unterschiede zwischen den beiden Persönlichkeitsmerkmalen Introversion und Extraversion. Die Ausstattung des Nervensystems insbesondere im Gehirn macht also den Unterschied. „Wenn du nicht weißt, was ein Extravertierter denkt, hast du nicht zugehört. Wenn du nicht weißt, was ein Introvertierter denkt, hast du nicht gefragt.“ Jack Falt Das vegetative Nervensystem eines Menschen besteht aus zwei unterschiedlichen Kreisläufen – dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Es sorgt dafür, dass für alles, was wir zum Überleben benötigen, genügend Energie vorhanden ist. Kommt der Mensch in eine Stress-Situation, wird der Sympathikus aktiv. Dabei wird der Herzschlag aktiviert, die Verdauung blockiert und alle Energie in die Muskeln geschickt, damit er flüchten kann. Der Sympathikus wird von dem Botenstoff Dopamin aktiviert, welcher für den motorischen Antrieb, für Neugier, für die Suche nach Abwechslung oder das Anstreben von Belohnungen zuständig ist. Heute weiß man, dass extrovertierte Menschen eher vom Sympathikus geprägt sind und mehr auf äußere Reize durch eine höhere Dopaminempfindlichkeit reagieren. Kurz gesagt: Ein Extro-Hirn hat für die Aufnahme von Sinnesreizen viel mehr Kapazität. Durch einen messbar stärkeren Blutfluss kann es leichter viele verschiedene Außeneindrücke aufnehmen und auch verarbeiten. Extrovertierte Menschen sind für attraktive Anreize sehr empfänglich und wagen auch für lockende Belohnungen manchmal Ungewöhnliches. Sie ziehen also Kraft aus der Begegnung mit anderen Menschen. In Stress-Situationen reagieren „Extros“ auch meist gelassener und flexibler. „Ich denke, es ist sehr gesund, Zeit mit sich allein zu verbringen. Du brauchst die Erfahrung, wie es ist, mit dir allein zu sein und nicht durch einen anderen Menschen definiert zu werden.“ Oscar Wilde Ist die Stress-Situation vorüber, wird der auch Ruhenerv genannte Parasympathikus aktiviert. Der Herzschlag wird gesenkt und Entspannung und Erholung werden möglich und auch die Verdauung läuft wieder an. Der Sympathikus sichert das kurzfristige Überleben, z. B. in einer Stress-Situation, der Parasympathikus hingegen sichert das langfristige Überleben. Als wichtiger Botenstoff im System des Parasympathikus sorgt das Acetylcholin für Wohlgefühl sowie für Reflexion, Gedächtnis, Konzentration, Lernen und Aufmerksamkeit. „Introvertierte sind sorgfältige, gründliche Denker, die die erforderliche Einsamkeit ertragen können, um Ideen zu entwickeln“ Susan Cain Introvertierte Menschen werden stärker vom Parasympathikus geprägt, denn sie reagieren empfindlicher auf das aktivierende Dopamin und werden deshalb leichter von äußeren Eindrücken überstimuliert. Zudem braucht das Introsystem auch eine längere Zeit für die Übermittlung von Reizen. Im Gegensatz zum Extro-Hirn, bei dem das Blut in die Bereiche, die zuständig für die Aufnahme von Sinneseindrücken sind, fließt, gelangt es im Intro-Hirn in die vordere Großhirnrinde. Also dorthin, wo Lernen, Entscheiden, Erinnern und Problemlösen angesiedelt sind. Was aber nicht automatisch bedeutet, dass Intros schneller denken. Im Gegenteil, schreibt Löhken, denn sie haben längere Leitungen in ihren Hirnen und die Reize müssen längere Strecken zurücklegen. Intros erscheinen oft als vorsichtige Menschen, die sorgfältig überlegen, bevor sie ein Risiko eingehen. Denn das Streben nach Sicherheit ist für Intros sehr wichtig. Gutes Beobachten und Zuhören, tiefe Reflexion und Einfühlungsvermögen gehören zu den typischen Stärken von Intros. Auf ihre Mitmenschen wirken sie deshalb oft verlässlich und vertrauenserweckend. Mit Veränderungen tun sie sich oft schwer und Neues lässt sie leichter in Stress geraten als Extros. Nicht nur im geschäftlichen Kontext, wie das einführende Beispiel zeigt, kann das Zusammentreffen von introvertierten und extrovertierten Persönlichkeiten zu Stress führen. Auch im privaten Rahmen, in Partnerschaften, können diese Unterschiede zu Missverständnissen und Auseinandersetzungen führen. „Endlich Wochenende. Entweder ich gehe aus und wünschte, ich wäre zuhause geblieben, oder ich bleibe zuhause und wünschte, ich wäre ausgegangen.“ Lena Noa Bekanntlich ziehen sich Gegensätze an. Das liegt daran, dass der Mensch das Bestreben hat, GANZ zu werden. Eine Partnerin oder ein Partner, der die Eigenschaften ergänzt, die der eigenen Persönlichkeit fehlen, wirkt am Anfang einer Partnerschaft anziehend. Man ist geradezu fasziniert vom anderen. Doch in den meisten Partnerschaften kommt einmal die Zeit, in der die Unterschiedlichkeit anstrengend wird und im Unverständnis mündet. Wird diese Zeit überwunden, erreicht man als Paar eine vertrauensvolle und wertschätzende Akzeptanz dem anderen gegenüber. Man selbst darf sein, wie man ist bei voller Akzeptanz durch den Partner. Dem Partner werden die gleichen Rechte zugestanden. Er oder sie darf sein, wie er oder sie ist, mit allen Ecken und Kanten. Partner sind immer Spiegel füreinander und zeigen genau an, wo an der eigenen Entwicklung gearbeitet werden kann. Dies auszuhalten erfordert Mut und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. „Nur Intros kennen das Gefühl, gerne wie andere sein zu wollen, aber keine Ahnung zu haben, wie sie das anstellen sollen. Erst spät merken sie, dass sie genau richtig sind, so wie sie sind, und gar nichts ändern müssen.“ Lena Noa Ich hoffe, liebe Leserin, lieber Leser, dass dir die kleine Exkursion zur Ursache von Intro- und Extraversion hilft, dich selbst und andere besser zu verstehen und Unterschiede als Entwicklungschancen für die eigene Persönlichkeit zu sehen. Wichtig ist, dass du dir selbst vertraust und daran glaubst, dass du für deine Lebensaufgabe genau die richtigen Stärken und Fähigkeiten mitgebracht hast. Um noch die Frage zu beantworten, ob introvertierte Menschen stressanfälliger sind : Diese Frage kann nicht mit einem generellen ja oder nein beantwortet werden, denn auch extrovertierte Menschen haben Stress. Die Ursachen, die zum Stress oder gar zum Burnout führen, sind unterschiedlich! Auch ich gehöre zu den introvertierten Menschen. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass ich mich über dieses Wissen, wie „Intros“ und „Extros“ ticken, früher gefreut hätte. Mittlerweile bin ich seit über 25 Jahren mit einem extrovertierten Mann verheiratet. Auch wir hatten unsere Herausforderungen im Alltag, die mit den Unterschieden einhergehen. Aus meiner Sicht kann ich sagen, dass ich – je besser ich mich selbst kenne – umso besser mit den Unterschieden umgehen kann, um gut für mich selbst zu sorgen und meinen Partner einfach lassen kann, wie er ist. Sehr inspirierend auf meinem Weg fand ich auch das Enneagramm, das ich während meiner Coaching-Ausbildungen kennengelernt habe. Eine Einführung in die Psychografie und Erläuterungen zu den Stressfallen der drei Grundtypen des Enneagramms findest du in meinem Gelassenheitsblog 2024. Denn auch hier ist es spannend, wenn die verschiedenen Grundtypen aufeinandertreffen. Es gibt immer verschiedene Wege, die Welt zu sehen oder durch die Welt zu gehen. Aber wie gesagt: Unterschiede müssen kein Hinderungsgrund für ein funktionierendes Miteinander sein, egal ob privat oder beruflich. Alle Qualitäten werden gebraucht und keine ist besser oder schlechter, sondern einfach nur anders. Hier sind die Links zu meinen Blogartikeln: Typspezifische Wege, in Stress zu geraten – Einführung in die Psychografie Typspezifische Wege, in Stress zu geraten – Stressfallen für den Handlungstyp und Wege in die Balance Typspezifische Wege, in Stress zu geraten – Stressfallen und Wege in die Balance für den Beziehungstyp Typspezifische Wege, in Stress zu geraten – Stressfallen und Wege in die Balance für den Sachtyp Möchtest du an deinen persönlichen Stressfallen arbeiten, um gelassener mit Stress umzugehen? Dann ist mein 9-moduliges Intensiv-Programm „Ich bin dann mal gelassen“ genau richtig für dich. In den Wochen unserer Zusammenarbeit lernst du Schlüsselfähigkeiten kennen, die deine Selbstwirksamkeit und Selbstregulation stärken. Du lernst dich selbst besser kennen und wirst resilienter. Gib Burnout keine Chance! Deine Corinna Wiß #stressmanagement #burnout-prävention #gelassenheit #resilienz #introversion #extraversion #ressourcen #persönlichkeitsentwicklung